Ausstellung "waiting for the blue" Fotografien von Angela Kröll

Mein Name ist Claudia Jürgens, ich bin Literaturwissenschaftlerin und Lektorin und verfolge die Arbeiten von Angela Kröll schon eine ganze Weile. Daher möchte ich sie Ihnen kurz vorstellen und Sie dann einladen, die Bilder dieser Ausstellung für den Augenblick mit meinen Augen zu sehen, bevor Sie sie selbst in Augenschein nehmen – Fotografien an der Nahtstelle von Bild und Ton.

Geboren 1962 in Düsseldorf, ist Angela Kröll nach einem Studium in Siegen und Berlin als Sozialpädagogin in Berlin tätig. Parallel dazu hat sie Kurse im Bereich Visuelle Kommunikation und Fotografie besucht, an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Berlin und Salzburg, bei Arno Fischer und Nan Goldin, der Ostkreuzschule für Fotografie bei Grit Schwerdtfeger, Seminare bei Ursula Kelm u. a., und unterrichtet heute selbst Erwachsene, Kinder und Jugendliche, u. a. im Rahmen von Lehraufträgen an der Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam, der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und an der Universität der Künste Berlin, und auch hier beim Kulturverein Schildow hat sie Fotokurse für Senioren gegeben. Sie ist Mitglied der Gruppe 97 und hat ihre Bilder in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt, an der Freien Volksbühne Berlin und in verschiedenen Galerien in Berlin, außerdem in München, Dresden und Rotterdam.

Genauso wie ihre Ausstellungen durch die Weltgeschichte reisen, reist auch Angela Kröll selbst mit ihrer Kamera. Entstanden sind dabei in den vergangenen Jahren Serien und Installationen wie Coney Island oder santa ponsa mallorca. Auch in der Ausstellung hier sind Fotos aus unterschiedlichen Teilen der Welt vertreten: u. a. aus London und der Uckermark, aus Mallorca, Den Haag und Wilmersdorf. Doch was Angela Kröll von ihren Reisen mitbringt, sind keine Reportagen und keine sozialen Studien, sondern Bilder, die überall aufgenommen sein könnten, weil sie das Allgemeinmenschliche zeigen, das Allzumenschliche manchmal, und Orte, die sich in andere Orte übersetzen lassen. Man kommt in den Bildern von Angela Kröll oft auch gar nicht an, man ist unterwegs, im Zug, im Auto, an einem Nichtort zwischen A und B. Man kann es sich in ihnen nicht gemütlich machen, man fühlt sich manchmal selbst unbehaust beim Betrachten, und die Welt zieht wie in einem Film an einem vorbei. Anatole France sagte einmal: „Was ist Reisen? Ein Ortswechsel? Keineswegs! Beim Reisen wechselt man seine Meinungen und Vorurteile.“ Zu einem solchen Perspektivwechsel laden Angela Krölls Bilder ein, Bilder vom Unterwegssein an der Nahtstelle von Nähe und Ferne.

Die Nacht ist dabei Angela Krölls Element, für sie als Mensch und für sie als Fotografin. Frühere Ausstellungen trugen Titel wie Was macht das Licht, wenn es dunkel wird?, Eintrittskarten in die Nacht und Eine Nacht in Bogota, eine Gruppenausstellung im Hotel Bogota kurz vor der Schließung. Auch hier zeigt sie Bilder der Nacht, in denen das Licht jedoch eine zentrale Rolle spielt. In fast allen findet sich eine kreisförmige Lichtquelle – sei es der Blutmond, Straßenlaternen oder Diskokugeln. Leo Tolstoi schwärmte einmal: „Die ganze Mannigfaltigkeit, der ganze Reiz und die ganze Schönheit des Lebens setzen sich aus Licht und Schatten zusammen.“ Und auch in Angela Krölls Bildern fügen sich die Schwärze der Nacht und das diffuse oder grelle Licht zu etwas geheimnisvollem Ganzen zusammen. Bilder von der Nacht an der Nahtstelle von Hell und Dunkel, von Sichtbarem und Unsichtbarem also.

Doch nicht nur die Dunkelheit will in Angela Krölls Bildern durchschaut werden, sie konfrontieren uns mit weiteren Barrieren, die einen einfachen, eindeutigen Blick erschweren. Leitplanke 1–10 hieß eine Serie, die Angela Kröll in Dresden und im Kunstverein Tiergarten gezeigt hat. In den Bildern hier in der Schildower Dorfkirche blicken wir auch durch die Windschutzscheibe eines Autos, aus dem Zugfenster oder durch eine Glastür, die Konturen sind durch die Lichtverhältnisse verzerrt und verwaschen. Und einmal sehen wir sogar doppelt, weil uns eine Doppelbelichtung bewusst zwei Bilder gleichzeitig zeigt, ein Hotelbett und einen Vorhang. Und durch den Vorhangschlitz sieht man noch auf etwas anderes. Mit diesen Verfremdungseffekten fordert Angela Kröll uns heraus, unsere Wahrnehmung zu hinterfragen, bewusster hinzusehen und sich die Frage zu stellen: Was sehe ich da genau – und was sehe ich nicht? Franz Werfel sagte einmal: „Fremdsein ist eine gewaltiges Handwerk, das Fleiß und Fertigkeit erfordert.“ Weil wir wie Zuschauer*innen auf die Szenen blicken, die Angela Kröll uns zeigt, und nicht Teil von ihnen sind, wird selbst das Vertrauteste wie ein Baum oder ein Pferd plötzlich fremdartig. Bilder der Verfremdung an der Nahtstelle von Vertrautem und Unvertrautem also.

 

Das Besondere an den Bildern in diesem Raum ist die Tatsache, dass Angela Kröll diesen beschriebenen Nahtstellen eine weitere, eine sichtbare hinzugefügt hat. Mithilfe eines elektronischen Verfahrens hat sie Schallwellen auf ihre Fotos übertragen und mithilfe eines handwerklichen Verfahrens hat sie sie sichtbar gemacht: Sie hat sie bestickt. Man fühlt beinahe den weichen roten Baumwollfaden. Das fügt den optischen Reizen der Bilder – wie Blindenschrift – eine geradezu haptische Qualität hinzu. Und die akustischen Reize einer Schleife aus Hintergrundgeräuschen, die wir hören können, wenn wir die Bilder betrachten, werden übersetzt in optische wie bei der Gebärdensprache und treten zu den Bildinhalten hinzu. Fotos an der Nahtstelle von Technik, Handwerk und Kunst also, ebenso wie an der Nahtstelle von Sehen, Spüren und Hören im Sinne der Synästhesie, einer Kopplung mehrerer physisch getrennter Modalitäten der menschlichen Wahrnehmung.

Denn wie mit ihrer Kamera hat sich Angela Kröll auch mit einem Aufnahmegerät auf den Weg gemacht. Immer wieder hören wir raschelnd ihre Schritte, während sie in Provincetown, USA, oder in Berlin-Kreuzberg einfängt, was sie akustisch umgibt. Während wir in den Bildern aus dem Autofenster auf vorüberziehende Palmen im Abendrot oder aus dem Zugfenster auf eine städtische Landschaft in der Dämmerung blicken, hören wir das Rattern einer U-Bahn, das Rauschen eines Autos und erleben so doppelt das Unterwegs- und das Unbehaustsein.

Doch eins zu eins sind die Geräusche natürlich nicht in eine Begleitmusik zu den Bildern zu übersetzen. Im Gegenteil. Manche der Fotos verwehren sich gegen den Lärm, manche fordern Stille ein oder verteidigen sie störrisch gegen Verkehrsrauschen und Gemurmel. Und während wir die Diskokugeln betrachten, die von der kahlen Decke hängen, oder von außen in beleuchtete Fenster blicken, machen uns die aufgenommenen Stimmen, die Gespräche, das Gelächter und die Musikfetzen schmerzlich bewusst, dass wir nicht dabei sind. Wir sind Augenzeug*innen eines Lebens, zu dem wir keinen Zutritt haben, und Ohrenzeug*innen von Gesprächen, von denen wir das meiste nicht einmal verstehen. Wie die schmutzige Windschutzscheibe schiebt sich auch akustisch etwas zwischen uns und das Gehörte, es wird verzerrt und verfälscht.

Selbst die Sprache kann man nicht immer identifizieren – Spanisch? Deutsch? Englisch? Einmal jedoch sticht ein Satz in meinen Ohren hervor. Da sagt ein Mann lachend: „Turn the lights out“ – ein Bezug zu den Lichtveränderungen, um die es in diesen Bildern geht. Dämmerung, Zwielicht, Morgengrauen, oder wie es im Titel heißt: „Waiting for the Blue“. Vielleicht warten wir auf die blaue Stunde, weil sie die Konturen des Lebens abmildert, vielleicht warten wir auch auf das klare Blau des Morgenhimmels, weil dann alles eindeutiger zu werden scheint. „You’ll never know, I will not be here for the summer, hopefully“, sagt der Mann. Und Hoffnung ist es auch, die sich mit diesem Ausstellungstitel verknüpft.

 

Der in Wien ansässige Musiker Gammon, der partizipative audiovisuelle Projektformate im sozialakustischen Kontext entwickelt, hat die Aufnahmen von Angela Kröll zu einem Soundmix verarbeitet. Die einzelnen Geräuschelemente wurden zu einer Endlosschleife miteinander verknüpft, die eingesetzten elektronischen Musikelemente stellen dabei – genau wie der rote Faden in Angela Krölls Bildern – eine enge Verbindung her, machen aber zugleich die Nahtstellen zwischen den einzelnen Aufnahmen deutlich.

Das Wort „Nahtstelle“ bezeichnet beim Nähen und beim Schweißen eine sichtbare entstandene Linie und meint im übertragenen Sinne eine Stelle, an der zwei unterschiedliche Dinge oder Bereiche aufeinandertreffen. Wie schön eine solche Nahtstelle sein kann, zeigt die traditionelle japanische Reparaturmethode Kintsugi, bei der Keramik- oder Porzellanbruchstücke mit Lack, Kitt und Goldpulver wieder zusammengefügt werden und die gerade die Makel und nicht das Perfekte, Heile hervorhebt. Wie schön eine solche Nahtstelle sein kann, zeigen auch diese Bilder von Angela Kröll. Sie zeugen von der Zerbrechlichkeit des Menschen, von der Uneindeutigkeit des Blicks, von Lebensbrüchen, die in der Nacht besonders sichtbar werden, weil die Welt stiller und fremder ist als am Tag, von Scherben, die im Scheinwerferlicht, im Mond-, im Sonnenuntergangs- oder im Blitzlicht schimmern und ihre Geschichten erzählen.

Das ist es, was ich sehe, höre und denke, wenn ich diese Bilder betrachte. Sich auf diese Geschichten einzulassen, die die Bilder von Angela Kröll Ihnen ganz persönlich erzählen, und Ihren eigenen roten Faden in dieser Ausstellung zu entdecken, dazu möchte ich Sie jetzt ganz herzlich einladen. Vielen Dank.

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